Adipositas Management – Psychotherapeutische Ansätze
Da Adipositas unter anderem psychisch bedingt ist, spielen psychologische Interventionen bei der Behandlung der Adipositas eine wichtige Rolle. Ziele sind die Verbesserung der Impulskontrolle, die Emotionsregulation und die Behandlung von chronischen Stressoren als Triggerfaktoren.

Adipositas ist eine komplexe, multifaktoriell bedingte Krankheit. Dabei spielen Umwelteinflüsse, genetische, aber auch psychologische und soziale Faktoren eine wichtige Rolle. Nebst Ernährung und Bewegung müssen Körperwahrnehmung und emotionales Wohlbefinden der Patienten berücksichtigt werden. Therapieansätze, die nur einen Teilbereich abdecken, werden der Komplexität der Adipositas in der Regel nicht gerecht [1]. Darum spricht man heute von «Lifestyle Modification» als Therapiekonzept der Wahl.
Nicht selten leiden die Patienten an psychischen Komorbiditäten, die entweder die Entstehung der Adipositas begünstigt haben oder im Verlauf der Gewichtszunahme der Patienten entstanden sind und die Adipositas mitunterhalten können. Auch Essstörungen sind häufig. Das Konzept der Lebensstilumstellung beschränkt sich hierbei nicht nur auf nicht-chirurgische Patienten, sondern kann und muss sogar bei bariatrischen Patienten im post-operativen Verlauf gefordert werden, um einer Gewichtszunahme über das physiologische Niveau hinaus vorzubeugen. Daten zu Langzeitverläufen einer abermaligen Gewichtszunahme nach bariatrischer Therapie liegen auf internationalem wie auch europäischem Niveau vor, werden erstaunlicherweise jedoch wenig diskutiert: Physiologisch ist eine Gewichtswiederzunahme von 10–20% des tiefsten Gewichtspunkts (Nadirgewicht) nach der Operation [2]. Das bedeutet, dass eine Wiederzunahme von 8,5–17 kg normal ist, wenn ein 160 cm grosser Patient mit einem Ausgangsgewicht von 120 kg nach der Operation ein Gewicht von 85 kg erreicht. Allerdings sehen wir bei jedem fünften Patient eine deutlich höhere Gewichtszunahme (Adimed, n=3256; mittlerer Beobachtungszeitraum: 10 Jahre). Dr. med. Renward Hauser, Facharzt auf dem Gebiet klinische Ernährung und bariatrische Chirurgie, sorgt 632 Personen nach, die zwischen 1995 und 2018 operiert wurden. Von diesen erlitten bisher 269 Patienten (44,5%) einen Rebound von +10 bis max. +20% des Nadirgewichts; 116 dieser 269 Patienten (19,2% aller Operierten) gingen in ein Verfahrensversagen über, erlitten also eine Wiederzunahme von mehr als 20%.
Ein wichtiger Baustein der Veränderung des Lebensstils ist die Verhaltensmodifikation. Dabei werden Verhaltensbeobachtung und -umstellung geschult und nachfolgend repetiert und ausgebaut. Meistens kommen dabei weitere Bausteine der Verhaltenstherapie zum Zuge. Nebst Veränderung der Auslösesituationen werden emotionale, gedankliche und körperliche Einflussfaktoren auf das Essverhalten identifiziert und Alternativstrategien abgeleitet. In der Folge werden diese mit den Patienten im Alltag eintrainiert. Zu den Standardinterventionen gehören auch Rückfallprophylaxe sowie die Festlegung langfristiger Verhaltensziele.
Dysfunktionale Emotionsregulation als Basis
Im Alltag in der Praxis berichten die Patienten häufig, dass sie zu «Frustessen» tendieren. Bereits in einer solchen Aussage zeigt sich die eigentliche Komplexität der Adipositas. Häufig werden Grundsteine schon in der Kindheit gelegt: Wurde man als Kind häufig mit Essen (vor allem Süssigkeiten) getröstet, wenn man traurig war? Kompensierten die Eltern mangelnde Zuwendung mit der Bereitstellung von Essen? In solchen Fällen wurde Liebe und Zuneigung oft über Essen ausgedrückt und ausgelebt. Mangel wird mit dem Belohnungsgefühl, das bei der Nahrungsaufnahme entsteht, aufgewogen [3]. Diese Erfahrungsmuster sind prägend für den weiteren Lebenslauf.
Essen führt zu einer Stimulierung des Belohnungszentrums im mesolimbischen System mit entsprechender Ausschüttung von Endorphinen und Dopamin – insbesondere bei fett- und zuckerhaltigen Nahrungsmitteln. Auf diese Weise werden rasch Erinnerungsmuster im Gedächtnis gebahnt und zusätzlich verknüpft mit den oben erwähnten Erfahrungen von Liebe, Zuneigung und Trost. Je häufiger nun diese Erinnerungsbahnen genutzt werden, desto wichtiger werden diese. Gleichzeitig führt das Zuführen des immer selben «Entspannungsmittels» zu einer Abstumpfung der Rezeptoren im Belohnungszentrum – es braucht also immer mehr davon. Da in der Stressreaktion auch der präfrontale Kortex stärker gehemmt wird, verliert der Organismus die bewusste Steuerung; das Gehirn geht im «Automatikmodus» der Einnahme des Entspannungsmittels nach. Bezogen auf Nahrung als Mittel zur Emotionsregulation heisst das also, dass immer mehr Nahrung eingenommen werden muss, um den Entspannungseffekt erzielen zu können und dieser Reflex gleichzeitig nicht gesteuert werden kann. Untersuchungen zu einem abhängigen Umgang mit Essen zeigen, dass bei etwa 11% der Normalgewichtigen ein suchtartiges Essverhalten besteht, während dies bei rund 25% der Übergewichtigen der Fall ist [4].
Neuere Daten legen zudem nahe, dass vorrangig emotional ausgelöste Essimpulse auch eine Folge von Diäterfahrungen sein können, indem der Körper im Zustand eines Kaloriendefizits mit Stress und Impulsivität im Essverhalten reagiert. Ebenfalls scheint eine Veränderung der Hypophysen-Nebennieren-Achse, respektive der Reaktionszeit der Cortisolausschüttung ein emotionales Essverhalten vorherzusagen [5,6]. Entsprechende Ergebnisse kommen aus der Forschung zu chronischem Stress, wo eine Verbindung zwischen Biographie, Umwelt-/Lebenssituation, der physiologischen Stressreaktionen und den darauffolgenden Verhaltensweisen aufgrund der Stressreaktion erforscht werden («Allostatic Load»-Modell) [7]. Auf die Psychotherapie abgeleitet bedeutet dies, Impulskontrolle und Emotionsregulationsfertigkeiten der Patienten zu verbessern. Gleichzeitig müssen die Patienten jedoch lernen, die entstehende Anspannung beim Ausbleiben des Belohnungsreizes aushalten und auslösende Umstände für die Essimpulse, insbesondere auch chronische Stressoren, verändern zu können.
Essstörungen bei Adipositas
Binge Eating Disorder (BED), die Störung mit Essanfällen (ICD-10: F50.9), kommt bei Adipositas gehäuft vor. So zeigen Studien, dass in konservativen Gewichtsreduktionsprogrammen bis zu 30% der Teilnehmer die Kriterien für eine BED erfüllen [8]. Meist sind dies regelrechte Essattacken, wobei Betroffene in kurzer Zeit (ca. 30 Minuten) deutlich mehr Kalorien zu sich nehmen als üblich. Begleitet wird dieses Essverhalten von einem Gefühl von Kontrollverlust. Zudem wird auch Binge Eating neuerdings mit einer veränderten Cortisolausschüttung in Verbindung gebracht. Nicht selten nimmt jedoch der Kontrollverlust auch eine Form von Snacking oder Grazing an. Gemeint ist, dass Betroffene zwar nur zu kleinen Snacks greifen, dafür über eine längere Zeit immer wieder. Gerade bei post-bariatrischen Patienten ist dies ein häufig beobachtbares Phänomen [9]. Ebenfalls muss bei post-bariatrischen Patienten, gerade wenn Figur- und Gewichtssorgen schon vor dem Eingriff überdurchschnittlich ausgeprägt waren, auf die Entwicklung anorektischer Verhaltens- und Denkmuster geachtet werden.
Psychiatrisch-psychologische Komorbiditäten
Adipositas ist assoziiert mit einer höheren Rate an Depressivität und Angstsymptomen. So zeigen Daten, dass Adipöse, unabhängig vom Geschlecht, höhere Raten für Majore Depression, Bipolare Störungen, Panikstörungen und Agoraphobie aufweisen [10]. Daten aus den USA zeigen weiter, dass Depressivität eine Adipositas voraussagen lässt. Andererseits gibt es Hinweise, dass eine erhöhte Depressivität bei Adipösen einen schlechteren allgemeinen Gesundheitszustand mitbedingt. Mittlerweile wird auch ein atypischer Subtyp der depressiven Störung diskutiert, bei welchem Appetit und Hunger nicht vermindert, sondern erhöht zu sein scheinen. Dies wirkt sich möglicherweise auch in einem vermehrten emotionalen Essen aus, wodurch Patienten mit diesem Subtyp der depressiven Erkrankung eher eine Gewichtszunahme entwickeln. Adipöse Patienten, die eine Gewichtsbehandlung aufsuchen, sollten also zumindest auf Angst- und Depressionssymptome gescreent werden, da diese möglicherweise den Gewichtsverlauf mitbeeinflussen und so mitbehandelt werden müssen.
Eine Übergewichtsintervention bei psychiatrischen Patienten (z.B. chronische schwere Depressionen, schizoaffektive Störungen, Schizophrenien) kann durchaus langfristige Erfolge bezogen auf das Gewicht erzielen. Chronisch psychiatrisch erkrankte Patienten sollten dabei in einem multiprofessionellen Setting behandelt werden. Ein wichtiger Faktor scheint insbesondere die Dauer der gewichtsbezogenen Interventionen zu sein. Bisherige Daten zeigen, dass Interventionen, die kürzer als sechs Monate gedauert haben, keinen oder nur wenig Effekte auf das Gewicht hatten, während Interventionen von über zwölf Monaten Dauer durchaus langfristige Gewichtsverluste erbrachten [11].
Dies entspricht auch unseren Erfahrungen; der Erfolg psychotherapeutischer Interventionen stellt sich nach sechs Monaten ein, in Kombination mit Ernährungstherapie, Bewegungstherapie, Verhaltenstherapie und auch pharmakologischer Unterstützung. Hier können wir im Durchschnitt einen Gewichtsverlust von 16,2% vom Ausgangsgewicht erreichen, wenn der Patient diese sechs Monate geschafft hat, wie eine Datenbankauswertung (n=8252) des Zentrums für Adipositas und Stoffwechselmedizin (ZAS) Winterthur GmbH zeigt [12].
Psychotherapeutische Behandlungsansätze
Im Bereich der allgemeinen Lebensstilumstellung bei Adipositas eignen sich eine Vielzahl an verhaltenstherapeutisch orientierten Verfahren (Kasten). Auch bei der BED zeigen verhaltenstherapeutische Konzepte gute Erfolge. Oberstes Ziel bei der Behandlung der BED ist die Reduktion der Essanfälle. Erst in einem zweiten Schritt geht es dann auch um die eigentliche Gewichtsreduktion [13]. Zu den eingesetzten Verfahren gehören Selbstbeobachtungsprotokolle, Impulskontrollstrategien und kognitive Umstrukturierung dysfunktionaler Gedanken zur Ernährung, der Figur und dem Gewicht. In Bezug auf die dysfunktionale Emotionsregulation scheint es keinen Unterschied zu machen, ob Patienten ein spezifisches Training zu Emotionsregulation absolvieren, oder aber im Rahmen eines gängigen Programms zur Lebensstilumstellung mit verhaltenspsychologischen Elementen betreut werden [14].

Allerdings scheint die Fähigkeit der Körperwahrnehmung dabei eine wichtige Rolle zu spielen. Ebenfalls in Anlehnung an das Obengenannte sei angemerkt, dass bei der Therapie übergewichtiger Kinder die Eltern unbedingt in die Behandlung miteingebunden werden sollten. Denn das Essverhalten wird von den Eltern an die Kinder tradiert.
Da die Adipositas jedoch eine komplexe psycho-sozio-somatische Erkrankung darstellt, genügen die genannten Verfahren bei einigen Patienten nicht. Durch den Zugang über das Essverhalten werden den Patienten zugrundeliegende Motivstrukturen, die entsprechende Verhaltensweisen steuern, langsam bewusst. Darum kommt es häufig bei Einstieg in eine Gewichtsbehandlung eher zu einer Verschlimmerung der Gewichtssituation. Psychotherapeutisch spricht man von einer Problemaktualisierung [14]. An dieser Stelle muss mit den Patienten meist im Einzelsetting klärungsorientiert gearbeitet werden. Dabei werden die Patienten unterstützt, ihre Motivstrukturen noch besser erkennen und intrapsychische Konflikte (Konfliktschemata, welche eine unzureichende Befriedigung psychologischer Bedürfnisse begünstigen) anzugehen. Die Patienten müssen so lernen, neue Wege der psychologischen Bedürfnisbefriedigung zu erschliessen und biografische Erfahrungen zu akzeptieren.
Abschliessend kann festgehalten werden, dass psychologische Interventionen ein wichtiger Bestandteil der Adipositasbehandlung darstellen. Dies gilt nicht nur für die Therapie, sondern bereits für die Diagnostik. Mit zunehmender Komplexität der Adipositas sowie der Problemstellung der Patienten sollte eine Psychotherapie hinzugezogen werden. Sie ist in einigen Fällen gar ein unverzichtbarer Baustein einer erfolgreichen Übergewichtsbehandlung.
Take-Home-Messages
- Neben einer Verbesserung von Impulskontrolle und Fähigkeiten zur Emotionsregulation gehört die Bearbeitung von chronischen Stressoren als Triggerfaktoren zu den psychotherapeutischen Zielen. Nahrungsaufnahme zur kurzfristigen Spannungsreduktion ist ein häufiges Verhaltensmuster bei Adipositas.
- Esstörungen kommen bei Adipositaspatienten häufig vor und sollten ebenfalls in der Psychotherapie behandelt werden, vor allem bei bariatrischen Patienten. Komorbide Angststörungen und Depressivität, ebenfalls häufig bei Adipositas, sollten im Rahmen eines Screenings abgeklärt werden.
- Zur Bearbeitung von Motivstrukturen, Zielkonflikten und Problemaktualisierung hat sich ein klärungsorientiertes Verfahren im Einzelsetting als wirksam erwiesen.
Literatur
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- Grawe K: Psychologische Therapie, 2. Auflage. Göttingen: Hogrefe, 2000.
Roland Müller M.Sc.
Dr. med. Susanne Maurer
Dr. med. Beat R. Schaub